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Geboren wurde ich am 28. August 1957 in dem kleinen westsächsischen Industriestädtchen Crimmitschau. Die Eltern waren nach der teilweisen Enteignung im Jahre 1959 zu noch 49 % an einem Textilbetrieb mit damals etwa 50 Beschäftigten beteiligt. Ein Umstand, der meinen Lebenslauf dauerhaft prägen sollte.

  Denn es herrschte zu jener Zeit bekanntlich Sozialismus in jenem Teil Deutschlands, und zu dessen Staatsdoktrin gehörte es, Unternehmer, Händler, Handwerker und letztlich alle Selbstständigen als Ausbeuter und Klassenfeinde zu betrachten. Und nicht nur zu betrachten, sondern auch entsprechend zu behandeln.

   So verwundert es kaum, dass ich spätestens ab dem Zeitpunkt, da ein Kind vom schützenden Elternhaus in den "Ernst des Lebens" eintritt, in die Schule nämlich, sehr bald zu spüren bekam, was es bedeutet, nicht der geheiligten Arbeiterklasse zu entstammen. Der Makel der Geburt, der sich durch nichts wegwischen ließ, verfolgte mich somit quasi vom ersten Schultag an. Denn ich verweigerte als einziger in unserer Klasse den eigentlich obligatorischen Eintritt in die Jungen Pioniere und lehnte es unter Trampeln und Weinen ab, das blaue Halstuch dieser vormilitärischen Kinderorganisation zu tragen. Und so war der Weg ins Unheil bereits im zarten Alter von sieben Jahren vorgezeichnet: stets argwöhnisch beäugt von den meisten Lehrern, von vielen Mitschülern gehänselt und gemieden, nahm eine ganze Kette von Schlüsselerlebnissen ihren Anfang, an deren Ende fünf Jahre Stasi-Zuchthaus standen - aber auch die große Befreiung...

   Im bewegten Jahr 1968, während viele im Westen meinten, den Sozialismus herbei protestieren zu müssen, versuchte mein 20 Jahre junger Bruder Christoph eben diesem Sozialismus zu entkommen. Der Versuch endete im Grenzgebiet zwischen der Tschechoslowakei und Bayern mit Christophs Tod.

   Mit spätestens 14 Jahren wurden in der DDR mit dem Ritual der Jugendweihe und Aufnahme in die FDJ die Weichen gestellt: um mit Goethe zu sprechen, fiel die Entscheidung ob jemand "Amboss oder Hammer" sein werde. Die Kategorie Hammer fiel für mich aus, denn sie bedeutete in jenem Staat, dessen Name schon eine Lüge war, zu duckmäusern, sich anzupassen, mit den Wölfen zu heulen, schizophren zu leben und zu denken. Den  Aufnahmeantrag in die FDJ zerriss ich vor versammelter Klasse. Der Direktor warnte mich: trotz meiner ziemlich guten schulischen Leistungen würde ich nicht zur EOS delegiert werden und damit von der Chance auf Abitur und Studium ausgeschlossen. Und weil ich nicht nur Sohn von Ausbeutern war, sondern obendrein Christ und in der Gemeindearbeit sehr aktiv, fügte er hinzu, "christliche Elemente" wie ich hätten von der Arbeiter- und Bauernmacht keine Milde zu erwarten. Und während 99 % aller Mitschüler sozialistische Jugendweihe feierten, nahm ich - mit nur sieben anderen Jugendlichen - an der Konfirmation teil.
   
Ein weiteres Schlüsselerlebnis folgte 1972. Die Partei hatte beschlossen, sämtliche bis dahin noch existierenden Privatfirmen oder solche mit staatlicher Beteiligung - die ohnehin ein staatliches Diktat war - "in Volkseigentum zu überführen". Unter massivem Zwang wurde auch meine Mutter genötigt, den Wisch zu unterschreiben der sie über Nacht enteignete. (Mein Vater war bereits 1960 verstorben.) Aber man war gnädig und bot ihr an, in dem nunmehr "Volkseigenen Betrieb" als Nachtwächterin und Packerin zu arbeiten.
   
Ob sie von alledem oder etwas anderem krank wurde, kann ich nicht sagen. Sie starb ein Jahr später an Krebs; da war sie 48.

   Ich war 16, und lebende Verwandte - außer einer Großmutter - gab es nicht. Eigentlich hätte ich in ein Heim gemusst. Jedoch erklärte sich ein Mitglied des Kirchenvorstandes bereit, für mich als Vormund zu fungieren. Das rettete mich vor Schlimmerem. Allerdings musste ich kurz darauf für mehrere Monate ins Krankenhaus, und gewisse Leute machten sich meine Abwesenheit und auch Unerfahrenheit in diesen Dingen - man bedenke, ich war 16 - zunutze, um das geerbte Haus, in dem ich wohnte, der Stadt zu schenken und meine Wohnung zu räumen, um sie der Familie eines Mitgliedes der "Kampfgruppen der Arbeiterklasse" zu überlassen. Wieder zurück, musste ich mich damit abfinden in einer halbfeuchten Bude im Erdgeschoss zu hausen.

   Nach all diesen Wirren und ohnehin perspektivarm, absolvierte ich die Prüfungen der 10. Klasse nur noch halbherzig und schnitt, entgegen weit besseren früheren Ergebnisse, nur mehr mit "gut" ab.

   Nur wenige wissen heute, dass es in der DDR nicht nur ein Recht auf Arbeit gab, sondern auch die Pflicht. Und wer dieser Pflicht nicht nachkam, aus welchen Gründen auch immer, konnte wegen "asozialen Verhaltens", § 249 StGB, mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft werden. Ebenfalls weithin unbekannt ist, dass es für eine kleine Gruppe von Personen nahezu unmöglich war, eine Arbeit zu finden. Es war dies die Gruppe der "christlichen Elemente", der "Staatsfeinde", der "feindlich-negativen Personen" und ähnlicher Parias. Und wer nach Abschluss der Schule nicht so schnell wie möglich ein Lehrverhältnis nachweisen konnte, befand sich in beträchtlicher Gefahr.

   Schon immer grafisch interessiert und wohl auch ein wenig begabt, bewarb ich mich deshalb in verschiedenen Druckereien. Besonders herausragend und stellvertretend für einige andere sei ein solches Vorstellungsgespräch im VEB Verpackungsmittelwerk Crimmitschau erwähnt. Gemeinsam mit einem Mitschüler, der die gleichen Ambitionen hatte, wurde ich von der zuständigen Kaderleiterin examiniert. Zunächst sollten wir eine auf dem Schreibtisch stehende Vase mit Blumen zeichnen. Sodann folgten diverse Tests des Farbunterscheidungsvermögens und ähnliches. Bei allen Aufgaben schnitt ich etwas besser ab als der andere. Aber dann stellte die Dame die DDR-typischen Fragen nach der Mitgliedschaft in FDJ, GST, DSF und wer weiß wo noch. Jürgen war überall Mitglied, ich nirgends. Die Kaderleiterin konnte es kaum fassen, sprang auf und fuhr mich an: "Da sind Sie wohl so ein Mitglied der Kirche??? Dann gehn Sie doch zu Ihrem Gott und fragen den ob er eine Lehrstelle hat. Wiedersehen!"

   Gesagt, getan. Nicht unbedingt Gott selbst fragte ich, aber immerhin doch dessen Stellvertreter, unseren Gemeindepfarrer. Zu ihm hatte ich seit langem ein gutes Vertrauensverhältnis, und außerdem führte ich auf seine Bitte hin schon seit einiger Zeit den Kindergottesdienst durch. Der Pfarrer, der sofort begriffen hatte, dass mir Verhaftung drohen kann, wenn ich nicht bald eine Lehrstelle fände, beriet sich im Kirchenvorstand über meinen Fall. Und da ich nicht nur grafisches, sondern auch foto-grafisches Interesse bekundete, nahm mich ein Kirchenvorstandsmitglied, seines Zeichens Fotografenmeister mit eigenem Porträtatelier, als Lehrling bei sich auf. Wieder war eine Hürde genommen.

   Mittlerweile war die DDR Mitglied der UNO geworden und außerdem im Jahr 1975 der Schlussakte von Helsinki beigetreten. Honecker hatte das Papier unterzeichnet, das jedem Bürger freie Meinungsäußerung garantierte und, was den Millionen Eingesperrten das Wichtigste war, jedem Menschen das Recht gab, sein Land zu verlassen.

   Eine Flut von Ausreiseanträgen war die Folge. Und ich musste nur noch den 18. Geburtstag abwarten, dann war es soweit: der erste von insgesamt 49 Anträgen im Laufe von sieben Jahren wurde gestellt. Und selbstverständlich abgelehnt. Fast jeden Monat schrieb ich ihn neu, fast jeden Monat wurde ich zu "Aussprachen" beim Rat des Kreises vorgeladen. Musste Hasstiraden und baren Zynismus über mich ergehen lassen.

   Meinem Lehrmeister indessen gab "man" zu verstehen, es gehe nicht an, dass ein erklärter Staatsfeind in einem Geschäft mit regem Publikumsverkehr arbeitet und Kunden bedient. Er solle sich gefälligst überlegen, wie er mich loswird, denn seine Tochter wolle ja schließlich studieren... Und um ihm nicht weiter zu schaden, beendete ich das Lehrverhältnis wenige Monate vor Ablauf und war wieder das, was es in der DDR angeblich nicht gab: arbeitslos.

   Um der drohenden Gefahr einer Verhaftung zu entgehen blieb mir nichts übrig, als einen Hilfsarbeiterposten in einer Textilfabrik anzunehmen.

   Inzwischen hatte ich ein wunderbares Mädchen kennengelernt, schnell war sie bei mir eingezogen, und recht bald besiegelten wir die große Liebe mit einer Verlobung. Ostern 1977 sollte Hochzeit gehalten werden. Doch da hatten wir die Rechnung ohne die Stasi gemacht.

   Anfang März 77 verhafteten sie uns. Man hatte uns in einem besonders krassen Fall von "staatsfeindlicher Hetze" als Täter ermittelt: In der Silvesternacht 76/77 waren wir mit Farbbüchsen und Pinseln bewaffnet durch Crimmitschau gezogen und hatten in Reaktion auf die kurz vorher stattgefundene Biermann-Ausbürgerung die Worte "Solidarität mit Biermann!" an verschiedene Häuserwände, Schaufenster und andere Stellen und Flächen im Stadtgebiet Crimmitschaus angeschrieben. Nach sechs Monaten strengster Isolationshaft im Untersuchungsgefängnis der Stasi, mit Nachtverhören und diversen Methoden von Psychofolter, fand der Geheimprozess statt: Meine Verlobte wurde zu 18 Monaten verurteilt, ich zu drei Jahren und drei Monaten. *)

    Während der U-Haft aber hatte die Stasi etwas noch ganz anderes herausgefunden: Zwei Jahre lang hatte ich für einen Mitarbeiter eines bundesdeutschen Geheimdienstes Materialien gesammelt. Der Stasi-Offizier legte mir die entsprechenden Beweise vor und ließ mir die freie Wahl: entweder bekomme ich 12 Jahre Knast wegen Spionage - oder aber ich unterschreibe eine Verpflichtungserklärung als IM. Und, obgleich es kein Ruhmesblatt darstellt, gebe ich zu, ich unterschrieb. Ich war 19, naiv und nach monatelanger Isolation sowieso kaum mehr Herr meiner Selbst. (An dieser Stelle sei vorweggenommen, dass jener westliche Geheimdienstmann in Wirklichkeit ein besonders raffinierter IM war, der mich, den erklärten DDR-Gegner, unter falscher Flagge erfolgreich angeworben hatte. Diesen Umstand erfuhr ich erst 30 Jahre später, 2007, als neue Stasi-Akten über mich aufgetaucht waren.)

   Zur Abbüßung der Strafhaft brachte man mich ins Zuchthaus Cottbus. Die dortigen Erlebnisse sind zu haarsträubend, vor allem jedoch zu umfangreich um sie hier auch nur anzureißen. Auch wenn es nach vordergründiger Werbung klingt - ich muss hierbei auf mein Buch "Leerjahre" verweisen, welches den Wissensdurst eines jeden, der Sozialismus in Aktion verstehen will, vollkommen befriedigen wird.

    Doch der Stasi-Knast von Cottbus besaß auch einen großen Vorteil: er war ein Politknast ähnlich dem berühmteren in Bautzen, und von dort aus wurden die meisten Häftlinge nach Ablauf einer gewissen Zeit für harte Devisen an den westdeutschen Klassenfeind verkauft. Das gab einem jeden Hoffnung und den Mut, durchzuhalten.

     Aber ich hatte Pech. Anlässlich ihres 30. Jahrestages verkündete die DDR Ende 1979 eine Amnestie, und alle Politischen wurden nicht wie erhofft in den Westen, sondern aus dem kleinen Knast zurück in die Unfreiheit des großen Knastes entlassen.

    Wieder stellte ich Ausreiseanträge, wieder suchte ich, wie bereits drei Jahre zuvor, die Ständige Vertretung der Bundesrepublik mit der Bitte um Unterstützung auf. Wieder blieb alles erfolglos. Um meiner Verzweiflung Luft zu machen, beging ich im Berliner Palast der Republik vor den Augen hunderter Menschen einen Selbstmordversuch. Ich wurde gerettet. Fasste wieder Mut. Und ich schrieb einige Gedichte über den verhassten Staat, das längst als unmenschlich erkannte System; Gedichte die wie ein Ventil wirkten. Gedichte, die ich auch Bekannten und Freunden zeigte. Der Ehemann einer solchen Bekannten war Kommunist, Säufer und Frauenverprügler und zeigte seine Frau und auch mich umgehend an. Nachdem er erklärt hatte, er werde die Frau künftig noch besser im sozialistischen Sinne erziehen (die halbe Stadt wusste, dass die Ärmste fast täglich geschlagen wurde), ließ man von ihr ab, und sie blieb in Freiheit. Ich aber wanderte wieder in die Stasi-U-Haft, diesmal für acht Monate. Die Gedichte, die Besuche der Ständigen Vertretung und des ZDF-Büros in Ost-Berlin, Briefe an die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte - all das erfüllte den Straftatbestand der Staatsverbrechen "staatsfeindliche Hetze", "landesverräterische Agententätigkeit" sowie "landesverräterische Nachrichtenübermittlung". Mein Tun, so bemerkte der Richter im natürlich auch diesmal wieder geheimen Prozess, arbeite den westdeutschen Imperialisten direkt in die Hände und helfe somit, den dritten Weltkrieg vorzubereiten. Und ich solle froh sein dass der sozialistische Staat in seiner unerforschlichen Güte so milde ist, mir  n u r   sechs Jahre und sechs Monate Freiheitsstrafe aufzuerlegen.

    Diesmal ging es zur Verbüßung der Jahre nicht nach Cottbus, sondern ins größte Gefängnis der DDR nach Brandenburg an der Havel. Und während einst in Cottbus die Politischen weitgehend unter sich waren, sah die Sache in Brandenburg durchweg anders aus. Von den insgesamt ca. 3200 Insasssen waren schätzungsweise nur 200 bis 300 Politische. In nahezu jeder Zelle waren wir unter Mörder und andere Schwerverbrecher gemischt. Man sehe es mir nach, wenn ich bezüglich der Details auch hier wieder meinen Erlebnisbericht "Leerjahre" erwähne.

    "Das Erwartete kommt oft noch immer reichlich unverhofft." erkannte Wilhelm Busch höchst treffend. Denn schon nach etwa zwei Jahren öffneten sich auch für mich die Schleusen des Freikaufs. Im berühmten geheimen Stasi-Bus, mit getönten Scheiben und dessen Kennzeichen an der Grenze umklappten wie in einem Agententhriller, wurde ich direkt aus der Haft nach Gießen gebracht, ins dortige Übersiedlerlager.

     Es war der 4. August 1982, jener Tag an dem ich bis heute eine Art "zweiten Geburtstag" begehe.

    Von Gießen aus entschied ich mich, erstmals im Leben völlig unabhängig und ohne Behördenschikanen, nach Hamburg zu ziehen. Hier lernte ich sehr bald eine junge Frau kennen, wir zogen zusammen. Vor allem aber verwirklichte ich das während der fünf Zuchthausjahre fest gefasste Vorhaben: mit einer im An- und Verkauf erstandenen alten klapprigen Schreibmaschine verfasste ich den hier schon zweimal erwähnten Bericht über mein wechselvolles Leben in der DDR, mit Hauptaugenmerk auf die unmenschlichen Haftbedingungen, den Quälereien und Folterungen, die ich hatte miterleben müssen. Auch nahm ich sofort Kontakt auf zu jenen Hilfsorganisationen, die sich dem damals allgegenwärtigen Entspannungsgesäusel entgegenstemmten und sich als weit und breit einzige für die Unterdrückten in der DDR einsetzten: allen voran die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte und der Verein Hilferufe von drüben. Als deren aktives Mitglied war ich fortan bemüht, einerseits der Blauäugigkeit entgegenzuwirken, mit welcher Politik und Medien den DDR-Sozialismus verniedlichten, andererseits mit ganz praktischen Hilfen wie Paketen und Briefverbindungen die Angehörigen politischer Häftlinge zu unterstützen.

    Daneben begann ich, mit Hilfe und Unterstützung einiger Schriftsteller, Journalisten und Publizisten, welche bereits Jahre vor mir die sozialistischen Umerziehungsanstalten absolviert hatten, für Zeitungen zu schreiben und auch Vorträge an Schulen und diversen Einrichtungen der Erwachsenenbildung zu halten. Immer wieder erstaunt darüber, wie ahnungslos man im Westen war hinsichtlich der wahren Verhältnisse in der DDR, wie blauäugig man der SED-Propaganda glaubte, forcierte ich diese publizistische Tätigkeit umso mehr, je stärker Kräfte von links mich angriffen.

  Unter anderem wurde ich, vor der Hamburger Kunsthalle mit Plakaten für die Freilassung des mir persönlich bekannten schwerkranken Häftlings Rainer Bäurich demonstrierend, von einem Passanten angespuckt und er brüllte, ich sei eine Faschistensau und jedes Kind wisse doch, dass es in der DDR überhaupt keine politischen Gefangenen gibt.

   Ein anderes Mal referierte ich an der Uni Göttingen. Das heißt, ich hatte es vor, kam jedoch nicht dazu. Die Studenten tönten im Sprechchor "Schmidt ist ein Faschist - Schmidt will den Krieg!"

   Bei noch anderer Gelegenheit sprach ich bei einer Veranstaltung in Frankfurt. Im Anschluss verfolgten mich junge Friedensaktivisten bis zum Bahnhof und drohten, mich auf die Gleise zu werfen. Mehrere von ihnen trugen Buttons mit Friedenstauben an ihren Jacken...

   Doch genug, diese Liste ließe sich noch lang fortsetzen. Ein ganzes Buch wird es werden. Und mit der nötigen Ausführlichkeit werde ich darin ebenfalls berichten, wie die Stasi mich auch im Westen weiter bespitzelte, bekämpfte und versuchte, mich zu "zersetzen". Wie sie eine Zeitungskampagne gegen mich lancierte und nicht davor zurückschreckte, mich innerhalb der Menschenrechtsorganisationen, bei denen ich aktiv mitarbeitete, als Kriminellen darzustellen und mundtot zu machen. Dieser Extrakt aus 3.000 Seiten Stasi-Akten ist bereits in Arbeit.

  Auf Hamburg folgte als nächste Station Bonn, wo ich in einer Einrichtung des Innenministeriums arbeitete. Diese eher kleine Behörde befasste sich mit der Eingliederungshilfe freigekaufter politischer DDR-Häftlinge; vor allem Personen ohne Verwandte und in finanzieller Not.

   Nach etwa drei Jahren gab ich diese Tätigkeit auf, zog zunächst nach Oberwinter zwischen Bonn und Koblenz, und heiratete. Meine Frau stammte aus Rostock und war selbst ein Jahr wegen versuchter "Republikflucht" inhaftiert gewesen. Dass ihre Mutter als IM auf mich angesetzt war, erfuhr ich erst 2007 aus nachträglich aufgefundenen Stasi-Akten.

   Meine Frau indessen nahm wenig später eine Arbeit in München an, und so zogen wir nach Freising. Nicht lange, und die Ehe ging in die Brüche. Also suchte ich wieder mal eine neue Bleibe und landete in einem wunderschön gelegenen Waldhaus in Oberbayern, nicht weit von Rosenheim entfernt. Dass ich dortselbst aus Unkenntnis der Funktionsweise von Ölöfen einen Brand verursachte, dem fast meine gesamte Habe zum Opfer fiel, sei nur am Rande erwähnt.

   Inzwischen war mein zweites Buch erschienen, die Geschichte einer - tatsächlich geschehenen - versuchten Flugzeugentführung aus der DDR. Im Zuchthaus hatte ich den Entführer kennengelernt, und nachdem auch er nun freigekauft war, hatte ich die Geschichte anhand seiner Tonbandprotokolle niedergeschrieben.

   Daneben gründeten einige Gleichgesinnte und ich das Bildungforum für Deutschlandfragen e.V., einen Verein mit dem Ziel, als Instrument der politischen Bildung den Gedanken an die Einheit in Freiheit wachzuhalten. Wir konnten nicht ahnen, wie nahe dieses Ziel lag.

   Denn in diese Zeit hinein fiel der 9. November 1989. Ich saß in meiner Waldhütte vor dem Fernseher und konnte doch kaum etwas sehen; die Tränen liefen in Strömen.

   Im Januar 1990 fuhr ich erstmals in meine alte Heimat. Und genoss es, dort an Montagsdemos teilzunehmen und auf offener Straße mit Menschen über Themen sprechen zu können, für die man noch wenige Monate zuvor sofort verhaftet worden wäre. Eine unendliche Genugtuung. Dies zumal, da die Stasi für mich ein DDR-Verbot auf Lebenszeit erlassen hatte und ich nicht einmal die Transitstrecke nach Berlin benutzen durfte.

   Sehr schnell beschloss ich, wieder nach Sachsen zu ziehen. Ein Entschluss, den weder die Freunde im Westen noch die im Osten verstanden. "Wie kannst du nur...!" stöhnten alle. Doch für mich war klar: einzig die politischen Verhältnisse hatten mich weggejagt, und da diese jetzt nicht mehr bestanden gab es keinen Grund, nicht zurückzukehren. (Einmal abgesehen davon dass, der bayerische Vermieter mich hinausekeln wollte, weil ich es gewagt hatte, zwei Ungarnflüchtlinge aus dem Lager Freilassing bei mir aufzunehmen.)

   Die Fabrik unserer Familie, gegründet immerhin 1871 und einst eine der größten Textilbetriebe der Stadt, stand zwar noch, war aber Produktionsstätte einer Bilder- und Rahmenfirma geworden. Diese ging sehr bald pleite und ich bemühte mich um Reprivatisierung. Aus juristisch höchst kniffligen Gründen war dies nicht möglich, und ich beantragte gemäß des inzwischen geschaffenen Gesetzes eine Entschädigung. Das war im Jahr 1992. Gewährt wurde die Entschädigung im Jahr 2007...

   Zunächst bezog ich eine Wohnung in einer sogenannten Hitlersiedlung am Stadtrand, mit Plumpsklo und Ofen. Bald war die Fabrik leer geräumt, und weil in der damaligen Umbruchzeit nahezu alles möglich war, wechselte ich von der Plumpsklowohnung in die Fabrik und richtete mich dort häuslich ein. Daneben eröffnete ich, mich des erlernten Berufes erinnernd, in dem weitläufigen Gebäude ein Foto- und Castingstudio, denn mit dem Untergang der DDR und der sie zusammenhaltenden Mauer war meiner publizistischen und Referententätigkeit ein harsches Ende gesetzt.

   Kurze Zeit später übernahm ich ein Fotogeschäft im thüringischen Altenburg und heiratete erneut. Diese Ehe hielt zumindest länger als die erste, nämlich fast ein ganzes Jahr, während die erste nur fünf Monate gedauert hatte.
  
Sehr bald eröffnete ein Drogeriemarkt direkt neben meinem Geschäft seine Pforten, unterbot natürlich alle Preise und nach nur anderthalb Jahren beendete ich diesen Ausflug in die Geschäftswelt, eine fünfstellige Schuldsumme im Nacken, und zog nach Dresden. Dort mietete ich eine kleine Gründerzeitvilla mit Blaufichten und Pool im Garten und gipsernen Löwenköpfen auf dem Dach. Doch als ich mit der Miete in Verzug geriet, schlug der Besitzer, ein Ex-Boxer und, wie ich später erfuhr, Ex-Stasi-Mann mich zusammen und drohte mir mit seinen "russischen Freunden", wenn ich nicht sofort auszöge. Also schnappte ich mal wieder mein Bündel und schlug die Zelte nun in der Freiberger Gegend auf. Wohnen und Arbeiten fand statt in einer aufgelassenen LPG; die frühere Traktorenwerkstatt wurde Wohnzimmer.  Doch auch hier war des Bleibens nicht sehr lange. Anfeindungen der dörflichen Gemeinschaft, zerstochene Autoreifen und weitere Querelen verleideten mir recht bald die vermeintliche Landidylle.

   Zu etwa gleicher Zeit begab es sich, dass in dem nicht dauerhaft bewohnten Anwesen eines meiner Bekannten, seines Zeichens Kunsthändler, ein massiver Einbruchdiebstahl mit sechsstelliger Schadenssummme begangen wurde. Um dem künftig vorzubeugen, fragte der so Geschädigte bei mir an, ob ich nicht in dieses ansonsten leer und unbewacht stehende Gebäude einziehen wolle. Günstiger konnte ein Zufall kaum sein!

  Und so lebte ich seitdem einen Katzensprung nördlich von Dresden im ehemaligen Forsthaus der sächsischen Fürsten, einem im Jahr 1804 erbauten Herrensitz, das ich hausmeisterlich betreute. Hier geschah im Jahr 2005 ein kleines Wunder: mein Vater, 48 Jahre lang von mir tot geglaubt, stand plötzlich vor der Tür. Ein Ereignis das den Rahmen jeder Schilderung sprengen würde.

Mit den Jahren allerdings stellte sich heraus, dass jener Eigentümer des Grundstücks in mir vor allem eine billige Handwerkskraft sah und die unterschiedlichsten Leistungen erwartete. Um den permanenten Mängeln des alten Gemäuers zu begegnen, sollte ich Klempner, Maurer, Tischler, Elektriker, Dachdecker und Gärtner in einer Person sein, und obendrein aber für die kleine, feuchte und vom Hausschwamm arg befallene Wohnung noch Miete zahlen. Als schließlich die vom Schwamm zerfressenen Dielen durchbrachen, Teile der Wohnzimmerdecke einstürzten und ich auch nicht länger die Winterkälte aushielt, die mich an bitterkalten Tagen z.B. im nicht beheizbaren Bad bei Minusgraden duschen ließ, oder ich auch vor jeder Benutzung erst einmal die eingefrorene Toilette auftauen musste, zog ich einen Schlussstrich und suchte nach einer bewohnbareren Bleibe. Überzogen vom Zorn des Vermieters, der mir Undankbarkeit vorwarf, weil ich lediglich ein Mindestmaß an in Deutschland üblichem Wohnstandart einforderte, verließ ich nach zehn Jahren dieses zumindest im Sommer zugegebenermaßen höchst idyllische Anwesen und bezog ein kleines, altes Bauernhaus auf einem 75-Seelen-Dorf im Landkreis Meißen.

Dieser 18. Umzug meines Lebens ist mit Sicherheit der letzte. Haus und Grundstück und besonders dessen abgeschiedene Lage in völliger Ruhe und ohne störenden Autoverkehr und direkte Nachbarn erfüllt meine Vorstellungen und Wünsche weitgehend. Zudem kann ich, der bekennende Tierfreund, inzwischen auch als offizielle Pflegestation eines nahegelegenen Tierheims, meinen zur Zeit 21 Katzen und zwei Burenziegen die bestmöglichen Lebensbedingungen bieten, die von manchen Besuchern sogar als "Paradies" beschwärmt werden.

 Dank der nach jahrelangem Rechtsstreit endlich gewährten Stasi-Opferrente konnte ich 2014 unweit der Wohnung Räumlichkeiten für ein Fotostudio anmieten, dessen Bekanntheit zwar in der Umgebung noch nicht weit vorgedrungen ist, was jedoch meinen Optimismus nicht schmälert.

Auch als Autor bleibe ich aktiv. In Arbeit sind zunächst, fast möchte ich hinzufügen "auf vielfachen Wunsch", eine Fortsetzung von "LEERJAHRE", sowie eine gründliche Analyse der Identität von Kommunismus und Nationalsozialismus anhand der ideologisch-propagandistischen Ikonographie beider Faschismusformen.

Ein besonderes Highlight traf dann im Herbst 2016 ein: fast auf den Tag genau 40 Jahre nach unserem Kennenlernen, und 39 Jahre nach unser beider Verhaftung durch die Stasi, traf ich die einstige Verlobte Marina wieder. Es war eine unglaubliche, nicht zu beschreibende, wunderbare Begegnung. Und wir vereinbarten, uns ab nun für den Rest unseres Lebens mindestens einmal im Jahr gegenseitig zu besuchen.

 Und im übrigen bleibe ich gespannt darauf, was das Leben noch so alles bereithält.

(Aktualisiert im Juli 2017)